Doch wer war die Fotografin? Ilse Buhs wurde 1907 in Berlin geboren und machte dort eine Ausbildung zur Tänzerin, Schauspielerin und Sängerin. Engagements führten sie an verschiedene Berliner Theater, auch an das berühmte Metropol Theater. Dort absolvierte sie eine Ausbildung zur Fotografin, die sie 1940 mit der Meisterprüfung abschloss. Zunächst fertigte sie hauptsächlich Porträts von Schauspieler:innen, bevor sie sich ab 1948 auf Bühnenfotografie spezialisierte. Nicht nur in Berlin, sondern auch in Wien und Bayreuth fotografierte sie Theater- und Opernaufführungen. Bei ihrem Tod im Jahr 1994 galt sie als eine der wichtigsten Theaterfotografinnen des 20. Jahrhunderts. Für die DG war sie regelmäßig tätig, vor allem in den 1950er- und 1960er-Jahren. Im firmeneigenen Fotoarchiv haben sich schöne Porträts erhalten.
Erst jüngst wurde eine ihrer Fotografien wieder auf dem Cover eines aktuellen DG-Produkts verwendet:
Auch das spektakuläre Porträt von Abbado und Argerich schlummerte lange unbeachtet im Archiv, erst 2015 trat es seinen fulminanten Siegeszug in der Öffentlichkeit auf der Box der Complete Concerto Recordings an. Mit der Auswahl dieses Motivs durch die Produktmanagerin Anja Rittmöller in Verbindung mit der ebenso gelungenen Typografie von Christine Pluschys war klar: A star is born!
Man kann nur spekulieren, warum das Bild nicht unmittelbar nach seiner Entstehung genutzt wurde. Vermutlich lag es daran, dass es sich nicht optimal für eine Covergestaltung in Zusammenhang mit der berühmten gelben Kartusche eignete, die damals bevorzugt wurde.
Denn eigentlich entstand das Motiv bei den Tonaufnahmen zum ersten gemeinsamen Album von Argerich und Abbado mit Werken von Sergei Prokofjew und Maurice Ravel – und damit bei der ersten Aufnahme von Abbado für DG überhaupt. Die Wahl für das Cover dieses Albums fiel aber stattdessen auf ein Bild von Erich Auerbach, und auch das Folgealbum mit Werken von Frédéric Chopin und Franz Liszt zierte ein Motiv des Londoner Fotografen. Beiden Fotografien ist gemein, dass sie Abbado und Argerich sozusagen auf Augenhöhe zeigen und damit zum oberen Bildrand hin Platz boten, um die Kartusche unterzubringen:
Doch was macht eigentlich das Besondere an diesem Doppelporträt von Ilse Buhs aus? Zum einen ist es der ausgewogene, aber durchaus komplexe Bildaufbau: Senkrechte Mikrofonständer rhythmisieren den Hintergrund und geben eine strenge vertikale Ordnung vor. Vielfältige Diagonalen mit unterschiedlichsten Winkeln dynamisieren das Bildgeviert zugleich und bringen es regelrecht zum Schwingen. Das Quadrat wiederum ermöglicht eine Konzentration auf das Zentrum, das eindeutiger ist als beim herkömmlichen Quer- oder Hochformat. Und genau dort sind die Hände von Pianistin und Dirigent, von essenzieller Bedeutung für die Ausübung ihrer Kunst. Die Fotografin hat eine Mittelformatkamera benutzt, deren spezielle Bauweise es erlaubt, durch die geringe Schärfentiefe die vordere Bildebene zu betonen und so die Porträtierten besonders plastisch wirken zu lassen.
Komposition und Technik legen also die Grundlage, aber den besonderen Zauber des Bildes macht die Verbindung zwischen Abbado und Argerich aus. Körperhaltung, Kleidung und Habitus sind gleichermaßen lässig wie elegant, ihr Gesichtsausdruck ist von stillem Ernst. Eingefangen ist so ein Moment des Innehaltens, des tiefen künstlerischen Einvernehmens, das keine Worte braucht – ein Moment, in dem die beiden gleichermaßen ganz bei sich selbst wie auch beieinander sind.
Aus derselben Serie gibt es noch zwei weitere schöne Motive. Einmal hat die Fotografin den Blickwinkel gewechselt und sich auf der anderen Seite des Klaviers positioniert.
Ein anderes Mal konzentriert sich Buhs auf die Pianistin, diesmal mit dem Orchester im Hintergrund:
Bei allen drei Motiven der Serie fällt auf, dass ein bläuliches Licht im Innenraum herrscht. Das verdankt sich weder einem analogen noch einem digitalen Filter, sondern hat architektonische Ursachen. Schauplatz der Handlung ist nämlich die Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem, die aufgrund ihrer exzellenten Akustik häufig von Deutsche Grammophon für Schallplattenaufnahmen gebucht wurde. Die Verglasung der Seitenschiffe wird von blauen Farbtönen dominiert. Auf einem Porträt von Herbert von Karajan, der mit den Berliner Philharmonikern immer wieder in dieser Kirche aufgenommen hat, sind Teile dieser abstrakten Glaskunst im Hintergrund zu erkennen:
In diesem Raum begann also die gemeinsame Aufnahmegeschichte von Abbado und Argerich für das Gelblabel. Viele gemeinsame Alben folgten. Nur noch zweimal jedoch waren beide gemeinsam auf einem Cover zu sehen. Auf dem Album von 2004 fotografierte sie Marco Caselli Nirmal im Teatro Comunale von Ferrara am Klavier, in legerer und gelöster Probenatmosphäre. Das Covermotiv des Albums von 2014 stammt von Priska Ketterer und zeigt eine wunderbare Geste der Künstlerfreundschaft. Sie hat sie beim Schlussapplaus eines Konzerts beim Lucerne Festival eingefangen.
Dieses Konzert, das im März 2013 aufgezeichnet und von der DG dann im Folgejahr veröffentlicht wurde, war die letzte gemeinsame Tonaufnahme von Argerich und Abbado. Auf dem Cover kann man erkennen, dass Abbado schon von seiner Krankheit gezeichnet ist. Dass ihm im Angesicht des nahen Todes besonders eindringliches, nahezu transzendentes Musizieren gelang, wird von vielen berichtet, die das Glück hatten, seinen späten Konzerten beizuwohnen. Auch das Luzerner Album zeugt davon.
Der Produzent Sid McLauchlan, der einen großen Teil der Aufnahmen von Abbado seitens DG betreut hat, mithin zur künstlerischen »Familie« Abbados gehörte, erinnert sich an die Aufnahmen zu diesem letzten Konzert und an die besondere, von gegenseitigem Vertrauen und Respekt getragene Beziehung zwischen Abbado und Argerich, die hier ein letztes Mal die Basis bot, auf der sich große Kunst entfalten konnte.